Unser Engagement in aktuellen Projekten
Elise-Richter Project "Kritische Geschichte der Genetik und ihre Anwendung in MOE"
Projektleitung: PD Victoria SHMIDT (2023-2027)
Wie andere Wissenschaften führt auch die Genetik sowohl zu positiven als auch zu negativen Ergebnissen. Jede Hypothese über die genetischen Faktoren von Gesundheit und Krankheit prägt unsere Vision von Normen und Pathologien, die unsere Vorstellung von Andersartigkeit nähren. Jede der Methoden, die darauf abzielen, Erbkrankheiten rechtzeitig anzuzeigen, führt zu einer unzureichenden medizinischen Überwachung und sogar zu Unterdrückung. Die Dualität der Genetik spiegelt sich in einer Vielzahl von Einstellungen wider, die nicht nur individuelle Entscheidungen, sondern auch Politik und Kultur beeinflussen, wenn es um eine der Grundlagen des menschlichen Lebens geht: das Fortpflanzungsverhalten. Mein Projekt bringt die laufende Revision der Errungenschaften und Misserfolge der Genetik in die analytische Linse der reproduktiven Ungerechtigkeit – institutionalisierten und legitimierten Zwang zur Geburt (durch die Einschränkung des Zugangs zur Empfängnisverhütung) und zur Nichtgeburt (durch die Beteiligung an Maßnahmen zur Verhinderung der Geburt eines Kindes mit einer angeborenen Störung).
Ich bearbeite die Geschichte der Genetik, um die Ambivalenz des wissenschaftlichen Wissens über die menschliche Vererbung zu erklären, die aus zwei miteinander verbundenen und einander umstrittenen Strömungen besteht. Einerseits verfolge ich vielfältige und offensichtlich nie endende Versuche, den medizinischen Weg zur menschlichen Perfektion zu finden. Andererseits untersuche ich verschiedene Strategien, die darauf abzielen, die Idee der Perfektion mithilfe einer interdisziplinären Revision des wissenschaftlichen Fortschritts in der Genetik zu negieren. Der Fortschritt der Genetik geht mit ihrer Historisierung einher, und dieses Projekt befasst sich mit der Geschichte der Genetik und ihrer Metageschichte. In der globalen Geschichte der Medizin stellt die Ambivalenz des Fortschritts in der Genetik bisher etablierte Ansätze zur Interpretation des Einflusses der medizinischen Wissenschaft auf die Bevölkerungspolitik als Teil der öffentlichen Sicherheit in Frage. Die Historisierung der Genetik in den mittel- und osteuropäischen Ländern (MOEL) ist eine der Grundvoraussetzungen für die Entwicklung dieser Erzählung.
Die MOE-Länder haben verschiedene historische Momente erlebt, in denen die Stärkung ihrer geopolitischen Rolle als Region dazu geführt hat, dass medizinisches Fachwissen, einschließlich Genetik, mit der globalen Sicherheitsagenda in Einklang gebracht wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg und der zunehmenden Rolle bei der Prävention von Pandemien trugen prominente Eugeniker in ihren jeweiligen Nationalstaaten zur Medikalisierung bestimmter sozialer Gruppen als Überträger von Infektionskrankheiten bei. Eugeniker aus Mittel- und Osteuropa beteiligten sich in den frühen 1950er Jahren an der Ausarbeitung der UNESCO-Erklärungen zur Rasse, und nach der Kubakrise griffen sozialistische Genetiker sofort in die Agenda der globalen Bevölkerungspolitik ein, die auf das Überleben der Menschheit angesichts der drohenden Atomkatastrophe abzielte.
Der Zusammenbruch des Sozialismus führte zur Liberalisierung der Medizin, einschließlich der Einbindung der postsozialistischen medizinischen Genetik in den globalen Fruchtbarkeitsmarkt. Die tiefe Verstrickung der MOE-Länder in die vielschichtige politische Krise, die durch die russische Invasion in der Ukraine verursacht wurde, einschließlich der weit verbreiteten Reproduktion von Rassenhierarchien in der Migrationspolitik, macht den Ruf nach einer Revision der globalen Geschichte der Genetik heute noch dringlicher. Letztendlich ist es für die Historisierung von CEE selbst von wesentlicher Bedeutung. Die gegenwärtige Vielzahl reproduktiver Ungerechtigkeiten in den MOE-Ländern erfordert eine Historisierung durch die Linse einer genetisch fundierten Argumentation. Dieses Projekt löst diese Aufgabe.
Projekt Alois Riehl und der Philosophische Kritizismus
Die Frage, wie wir über eine bewusstseinsunabhängige Wirklichkeit Wissen erlangen können, wird in der gegenwärtigen analytischen Philosophie intensiv und vielseitig diskutiert. Dabei ist der Beitrag A. Riehls bisher fast gänzlich unberücksichtigt geblieben, obwohl dieser am Ende des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts in seinem dreibändigen Werk Der Philosophische Kritizismus eine elaborierte Philosophie des Realismus entwirft, in der er sowohl einen Realismus raumzeitlicher Gegenstände, einen mathematischen Realismus, einen wissenschaftlichen Realismus und einen moralischen Realismus systematisch verbindet.
Editionsprojekt "Der Philosophische Kritizismus"
Mit der Neuedition von Alois Riehls dreibändigem Werk »Der Philosophische Kritizismus und seine Bedeutung für die positive Wissenschaft« wird ein seit fast 100 Jahren vergriffener, philosophiegeschichtlich bedeutender Text wieder zugänglich gemacht. Im ersten Band (1876) rekonstruiert Riehl die Geschichte des Kritizismus und stellt seinen eigenen kritischen Realismus in die Reihe von Denkern wie Locke, Hume und Kant, aber auch Wolff, Lambert und Tetens.
Um die Jahrhundertwende gehörte Riehl zu den bestvernetzten deutschsprachigen Forscherinnen und Forschern – sein Einfluss reichte aber auch darüber hinaus, u. a. bis nach England, den USA, Russland und Japan. Er war Herausgeber der einflussreichen »Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie«, richtete mit Hilfe Wilhelm Wundts in Halle eines der ersten psychologischen Laboratorien Deutschlands ein und hat maßgeblich dazu beigetragen, den Begriff »Wissenschaftsphilosophie« in seiner bis heute gebräuchlichen Verwendung zu etablieren.
In Band 1 entwirft Riehl eine Geschichte des Kritizismus und positioniert seinen eigenen philosophischen Ansatz darin. Wichtigster Bezugspunkt ist Kants »Kritik der reinen Vernunft«, deren empiristische Quellen und systematische Lehrstücke er rekonstruiert. Der erste Band ist also als ein Buch über Kant und seine Vorgeschichte zu lesen und gleichzeitig als systematische Auseinandersetzung mit kritischer Philosophie. Dadurch nimmt das Buch in der Geschichte der Philosophie und Wissenschaften eine einzigartige Stellung ein und stellt immer noch einen höchst aktuellen Versuch einer »Integrated History and Philosophy of Science« dar.
Tagungsband zum Workshop "Making women visible in philosophy and history of science"
Der Tagungsband wird im Verlag der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft voraussichtlich 2024/2025 erscheinen.